Zwischen Personengeschichte und Institutsgeschichte: Die MGH von 1919 bis 1959

Zwischen Personengeschichte und Institutsgeschichte: Die MGH von 1919 bis 1959

Organisatoren
Monumenta Germaniae Historica (Deutsches Institut zur Erforschung des Mittelalters)
Ort
Tutzing
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.10.2023 - 29.10.2023
Von
Maximilian Becker, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Seit mehreren Jahren bemühen sich die Monumenta Germaniae Historica (MGH) um eine Aufarbeitung ihrer Rolle im Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt steht dabei das von 1935 bis 1945 bestehende Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde (MGh), mit dessen Gründung die Monumenta um- und nach dem „Führerprinzip“ neu organisiert und damit in die NS-Wissenschaftslandschaft einordnet wurden.1 Hinzu kommen die Beschäftigung mit den jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seit Gründung der Institution 1819 sowie ein von Johannes Fried und Ulrich Raulff übernommenes Editionsprojekt des Briefwechsels des bedeutenden jüdischen Mediävisten und „Monumentisten“ Ernst Kantorowicz (1895-1963). Ziel der Arbeitstagung war es, wie die Präsidentin der Einrichtung MARTINA HARTMANN (München) einleitend ausführte, einen intensiven Austausch über Personendatenbanken, digitale Briefeditionen sowie über das Projekt zur Geschichte des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde und seinen Kontext zu ermöglichen.

WERNER TSCHACHER (Aachen) eröffnete die Tagung mit einem Referat über die Datenbank zu Rektoren, Ehrensenatoren und Nobelpreisträgern der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen und demonstrierte, welche Möglichkeiten für eine prosopographische Forschung eine datenbankgestützte Herangehensweise bietet. Neben den „harten“ Fakten wie der NSDAP-Mitgliedschaft ließen sich so auch weitere Kriterien für eine NS-Belastung, etwa entsprechende Publikationstätigkeit oder die Mitwirkung an NS-Verbrechen, statistisch auswerten. Zudem ermögliche die Datenbank die Rekonstruktion von Netzwerken, die beispielsweise in der Entnazifizierung zur Entlastung genutzt wurden, und die Erstellung differenzierter Lebensläufe und Kurzporträts von bestimmten Personen.

BENEDIKT MARXREITER (München) stellte die beiden Personendatenbanken zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der MGH seit 1819 und zum Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde vor, von denen jedoch nur erstere öffentlich zugänglich ist.

Anschließend ging MARTINA HARTMANN (München) auf die Projektgeschichte und die besonderen Herausforderungen der digitalen Briefedition von Ernst Kantorowicz ein. Mit geschätzt etwa 3.000 Briefen hat Kantorowicz ein umfangreiches Corpus hinterlassen, das die MGH derzeit erschließen und – wie ANDREAS ÖFFNER (München) ausführte – als work-in-progress in einer vorerst nur intern benutzbaren Datenbank erfasst.

Nach diesem den Digital Humanities gewidmeten Vorträgen, die den Mehrwert digitaler Herangehensweisen und datenbankgestützter Forschung deutlich hervorhoben, wandte sich die Tagung mit den Vorträgen von Hans-Christof Kraus, Martina Hartmann, Herbert Zielinski, Eckhart Grünewald und Arno Mentzel-Reuter stärker inhaltlichen Fragen zu. HERBERT ZIELINSKI (Gießen) berichtete anhand des Briefwechsels zwischen Harry Bresslau (1848–1926) und Paul Kehr (1860–1944) aus dem frühen 20. Jahrhundert, dessen Teiledition der Referent vorbereitet, über das anscheinend weitgehend konfliktfreie Verhältnis der beiden. Allerdings könne aufgrund der Konventionen, denen Briefe unterliegen, das Verhältnis nicht nur anhand der Korrespondenz eingeschätzt werden. Hierfür müssten weitere Quellen, etwa Äußerungen in Briefen an Kolleginnen und Kollegen, herangezogen werden.

Auf die Briefkonventionen und die von den Schreiberinnen und Schreibern aufgrund von Postkontrolle, aber auch wegen des persönlichen Verhältnisses zu den Adressaten geübte Selbstzensur in diktatorischen Regimen mit totalitärem Anspruch ging auch HANS-CHRISTOF KRAUS (Passau) ein. Kraus rief dazu auf, bei der Interpretation von Wissenschaftskorrespondenzen, etwa aus dem Nationalsozialismus, „zwischen den Zeilen“ zu lesen.

Was für eine Fülle an Informationen aus einer privaten Gelehrtenkorrespondenz herausgezogen werden kann, zeigte ECKHART GRÜNEWALD (Düsseldorf) anschaulich anhand von Ernst Kantorowicz. Der Referent berichtete über Kantorowiczs Alltag in Berlin, über sein Verhältnis zu Kehr, und über briefliche Stellungnahmen des 1938 emigrierten Gelehrten zur Judenverfolgung im Deutschland der 1930er-Jahre.

MARTINA HARTMANN (München) beleuchtete in ihrem Referat die Rolle, die Theodor Mayer (1883–1972) und Percy Ernst Schramm (1894–1970) im Nationalsozialismus spielten, und ging dabei insbesondere auf ein Gutachten Schramms zur Nachfolge Adolf Hitlers ein, das dieser 1943 im Auftrag des Chefs der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, verfasst hatte. Dabei wurde einmal mehr deutlich, dass Mediävisten in der NS-Diktatur keineswegs nur „unpolitische Wissenschaft“ betrieben hatten.

Wie weit die freiwillige Indienststellung für den Nationalsozialismus ging, exemplifizierte ARNO MENTZEL-REUTER (München) am Beispiel Friedrich Baethgen (1890–1972). Baethgen, der nach dem Krieg behauptete, dass sich die Mediävistik nicht auf die NS-Rassenideologie eingelassen hätte, war in den 1920er- und 1930er-Jahren fasziniert vom italienischen Faschismus und begrüßte die Annexion des Sudetenlandes. Kurz vor dem deutschen Angriff auf Polen warnte Baethgen als Ordinarius an der Universität Königsberg vor einem polnischen Expansionsstreben. Vor allem aber schrieb er an dem Band „Burgund. Das Land zwischen Rhein und Rhone“ mit, der – herausgegeben von einem SS-Obersturmbannführer – der Germanisierung Lothringens eine historische Legitimation verschaffen sollte.2 Nicht einmal Theodor Mayer, den seine NS-Verstrickungen nach 1945 die Karriere kosteten, wollte zu diesem Machwerk einen Beitrag beisteuern. Die Auseinandersetzung mit Mayer, dessen Nachfolger an der Spitze der MGH Baethgen 1948 wurde, bildete den Abschluss des Vortrags. Der Referent forderte in diesem Zusammenhang dazu auf, die Geschichte der MGH auch „von unten“ zu betrachten und zu untersuchen, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Übergang in der Präsidentschaft von dem laut Mentzel-Reuters beliebten Mayer zu Baethgen einschätzten.

Korrespondenzen sind meist in Nachlässen überliefert, die in besonderer Weise von Verlust bedroht seien, wie LETHA BÖHRINGER (Köln) ausführte. Am Beispiel des umfangreichen Nachlasses von Herbert Grundmann (1902–1970) machte die Referentin deutlich, dass die Qualität eines Nachlasses in besonderer Weise vom Nachlassgeber abhänge. Wer wie Grundmann von der eigenen Wichtigkeit überzeugt sei, neige eher dazu, Schriftstücke aufzubewahren. Die Referentin machte zudem einige bedenkenswerte quellenkritische Anmerkungen: Nachlassmaterialien müssten von der Forschung mit anderen Quellen wie Personalakten kombiniert werden; sich nur auf Briefe zu stützen, könne zu Fehlurteilen führen. Auch müsse das Verhältnis zwischen Absender und Adressat, zwischen Briefschreiberin und Empfängerin eruiert werden, weil hiervon abhänge, was und wie etwas in der Korrespondenz behandelt werde.

Darüber hinaus spielen auch die nachfolgende Generation und allgemein die Erben eine wichtige Rolle für die Erhaltung von Nachlässen, wie ANNETTE MARQUARD-MOIS (München) am Beispiel der von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen MGH-Mitarbeiterin Erika Sinauer (1896–1942/45) erläuterte. Deren Papiere überdauerten Holocaust und Krieg, wurden dann aber von einer Bewohnerin der verwaisten Sinauer-Wohnung entsorgt. Trotz des Mangels an Quellen wurde Sinauer in die 2021 eröffnete Online-Ausstellung „Zwischen Vaterlandsliebe und Ausgrenzung – die jüdischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der MGH“ aufgenommen, die Marquard-Mois in ihrem Vortrag präsentierte.3 Anhand der Biographien von sechs ausgewählten Historikern und einer Historikerin wird darin „das Leben, der wissenschaftliche Lebenslauf und die Auswirkungen jüdischer Herkunft“ erzählt, mithin das Verhältnis von Wissenschaft und Antisemitismus an den MGH bis 1945 verhandelt. Aus der Ausstellung entstand die Idee zu einem gleichnamigen, weit umfassenderen Sammelband, über dessen Entstehung MARTINA HARTMANN (München) berichtete.4 Dabei würdigte die Präsidentin der MGH, dass viele Mitarbeiter/-innen an dem Band mitgeschrieben hatten. Trotzdem sei die Arbeit am Thema jüdische „Monumentisten“ noch lange nicht abgeschlossen. Hartmann ging dann auf einige Auslassungen in dem Band ein. So wurden Raisa Bloch (1899–1943), Emmy Heller (1886–1956) oder Beatrice Hirsch-Reich (1888–1967) nicht aufgenommen, da sie keine MGH-Editionen fertigstellen konnten. Dabei kam auch Percy Ernst Schramms Antisemitismus zur Sprache, den die Referentin anhand von Zitaten aus seinen Tagebüchern belegte. Der Band könne, wie die Referentin zum Abschluss sagte, nur der Anfang für eine Aufarbeitung der Geschichte der Monumenta sein. Damit sei, so der Diskussionsleiter Werner Tschacher, in zwei Themengebieten ein Anfang gemacht worden, den es weiterzuverfolgen gälte: Die Rolle von Frauen und die Rolle von jüdischen Mitarbeitern bei den MGH.

Zum Auftakt des letzten Konferenztages beleuchtete MATTHIAS BERG (München) in einem materialreichen Vortrag vor allem am Beispiel der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die institutionelle Verstrickung mit dem Nationalsozialismus und warnte abschließend vor einer „Flucht in die Biografik“.

Wichtig für die zunächst von der Archivwissenschaft betriebene Archivgeschichte seien Impulse von außen durch die Geschichtswissenschaft gewesen, so SVEN KRIESE (Berlin) in seinem forschungsgeschichtlichen Vortrag. Diese hätten zu einer Ausweitung der Themen und Herangehensweisen geführt. Im Mittelpunkt stehe besonders die NS-Zeit. Der Referent wies auch auf einige Desiderata hin: Aus archivfachwissenschaftlicher Sicht sei etwa noch zu untersuchen, ob Bestände in der NS-Zeit anders gebildet wurden als vor 1933 und nach 1945. Auch zu wesentlichen Akteuren wie Ernst Zipfel (1891–1966) oder Georg Winter (1895–1961) sowie zu den im Nationalsozialismus Verfolgten fehlten noch Biographien.

Am Beispiel des Briefwechsels zwischen dem Althistoriker Alfred Heuß (1909–1995) und dem Altphilologen Willy Theiler (1899–1977) demonstrierte STEFAN REBENICH (Bern, über Zoom zugeschaltet) zum Abschluss der Tagung noch einmal das Potential, das in Gelehrtenschriftwechseln steckt. Die beiden verhandeln in ihrer Korrespondenz wissenschaftliche Angelegenheiten, kommentieren den Kriegsverlauf und die Situation in Nachkriegsdeutschland. Thema war auch die prekäre persönliche Lage von Heuß nach 1945, der – als Deutsch-Schweizer Doppelstaatsbürger – vergeblich versuchte, einen Lehrstuhl in der Schweiz zu erhalten.

Insgesamt machten die Vorträge die Bedeutung von Historikerkorrespondenzen für eine Geschichte der Mediävistik zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der 1950er-Jahre deutlich. Mechanismen der Wissenschaft, das Funktionieren des Betriebes, persönliche Netzwerke und Animositäten zwischen den beteiligten Persönlichkeiten lassen sich so an konkreten Beispielen untersuchen. Bei der Interpretation dieser Quellen ist jedoch besondere Umsicht geboten, weil sich die Briefeschreiber gerade in ihrer privaten Korrespondenz oft einer eigenen Ausdrucksweise bedienten, die zwar die Adressatinnen und Empfänger verstanden, nicht unbedingt und auf Anhieb aber die Historikerin / der Historiker mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten. Dabei zeigte sich auch, dass die Forschung nicht bei der Analyse der Briefwechsel stehen bleiben darf, weil sie sonst Gefahr läuft, im Anekdotenhaften und biografischen Klein-Klein hängen zu bleiben. Weitere Quellen sind einzubeziehen. Neben dem einzelbiografischen Ansatz, der in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung dominiert, bedarf es zudem eines Blickwinkels über die Forschungsinstitutionen, um die Biographien in deren Kontext einzubetten.

Konferenzübersicht:

Thema: Datenbanken und digitale Briefeditionen

Martina Hartmann (München): Begrüßung und Einführung

Werner Tschacher (Aachen): Rektoren, Namensgeber, Ehrensenatoren, Nobelpreisträger. Erfahrungen aus einem biographischen Datenbankprojekt an der RWTH Aachen

Benedikt Marxreiter (München) / Andreas Öffner (München): Die Mitarbeiter-Datenbank der MGH

Martina Hartmann (München) / Andreas Öffner (München) /Benedikt Marxreiter (München): Die digitale Briefausgabe Ernst Kantorowicz

Diskussionsrunde: Personendatenbanken und digitale Briefeditionen

Hans-Christof Kraus (Passau): Historikerkorrespondenzen in der Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel der Briefe von Fritz Hartung, Gerhard Ritter, Heinrich von Srbik und Carl Erdmann

Thema: Personengeschichtsschreibung

Martina Hartmann (München): Theodor Mayer, Percy Ernst Schramm, der deutsche Gruß und das Führer-Kurkolleg

Herbert Zielinski (Gießen): Zum Verhältnis von Harry Bresslau und Paul Kehr in den ersten Jahren der Präsidentschaft Kehrs bei den MGH 1919–1926

Eckhart Grünewald (Düsseldorf): Ernst Kantorowicz und die MGH in den 1930er Jahren

Arno Mentzel-Reuters (München): Friedrich Baethgen im Dritten Reich: Netzwerk und Machtaufbau

Letha Böhringer (Köln): Zugänge zur Vita Herbert Grundmanns - Erfahrungen im Archiv und offene Fragen

Annette Marquard-Mois (München) / Martina Hartmann (München): Präsentation des 2. Bandes der Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung

Thema: Institutionengeschichtsschreibung

Matthias Berg (München): Institutionsgeschichte(n) in Zeiten des Wandels (1940 bis 1950)

Sven Kriese (Berlin): Institutionengeschichtsschreibung im Archivwesen seit 1990

Stefan Rebenich (Bern): ‚Es ist ein Jammer, daß politische Dummheit so die Zukunft Europas verspielt hat.‘ Alfred Heuß‘ Korrespondenz mit Willy Theiler vor und nach 1945

Anmerkungen:
1 Arno Mentzel-Reuters / Martina Hartmann / Martin Baumeister (Hrsg.): Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 - ein "Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften"? Beiträge des Symposiums am 28. und 29. November 2019 in Rom (Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung, Bd. 1), Wiesbaden 2021. Ein Bericht über die Tagung, die dem Band zugrunde lag, ist auf H-SoZ-Kult erschienen: Simon Unger-Alvi: Tagungsbericht Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein „Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften“? 28.11.2019 – 29.11.2019, Rom, in: H-Soz-Kult, 25.1.2020, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127177 (6.12.2023).
2 Franz Kerber (Hrsg.): Burgund. Das Land zwischen Rhone und Rhein (Jahrbuch der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 5), Straßburg 1942.
3 Annette Marquard-Mois (Konzeption und Projektleitung): Zwischen Vaterlandsliebe und Ausgrenzung – jüdische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der MGH, https://visit.mgh.de/de/jued-ma (8.12.2023).
4 Martina Hartmann / Annette Marquard-Mois / Maximilian Becker (Hrsg.): Zwischen Vaterlandsliebe und Ausgrenzung. Die jüdischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Monumenta Germaniae Historica (Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung, Bd. 2), Wiesbaden 2023.